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Urteil Verwaltungsgericht 2. Kammer (AG - AG WBE.2020.92)

Zusammenfassung des Urteils AG WBE.2020.92: Verwaltungsgericht 2. Kammer

Die Beschwerdeführerin aus dem Kosovo hat in der Schweiz geheiratet und um eine Aufenthaltsbewilligung gebeten, nachdem sie Opfer häuslicher Gewalt geworden war. Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau hat jedoch ihren Antrag abgelehnt und sie zur Ausreise aufgefordert. Die Beschwerdeführerin hat daraufhin Beschwerde eingereicht und geltend gemacht, dass sie wichtige persönliche Gründe habe, um in der Schweiz zu bleiben. Trotz fehlender Beweise für die häusliche Gewalt, die sie erfahren hat, wird ihre Glaubwürdigkeit gestützt durch ihren Aufenthalt im Frauenhaus und die Kostengutsprache der Opferhilfe. Das Verwaltungsgericht muss nun entscheiden, ob die Beschwerdeführerin aufgrund ihrer erlebten Gewalt einen Anspruch auf eine Aufenthaltsbewilligung hat.

Urteilsdetails des Verwaltungsgerichts AG WBE.2020.92

Kanton:AG
Fallnummer:AG WBE.2020.92
Instanz:Verwaltungsgericht 2. Kammer
Abteilung:-
Verwaltungsgericht 2. Kammer Entscheid AG WBE.2020.92 vom 22.08.2024 (AG)
Datum:22.08.2024
Rechtskraft:
Leitsatz/Stichwort:-
Schlagwörter: Gewalt; Gericht; Ehemann; MI-act; Recht; Aufenthalt; Schwiegermutter; Aufenthalts; Verwaltungsgericht; Schweiz; Aufenthaltsbewilligung; Akten; Bundes; Kanton; Frauen; Aussage; Erteilung; Kantons; Verfahren; Einvernahme; Urteil; Opfer; Vorinstanz; Kantonspolizei; Anspruch; Sinne
Rechtsnorm: Art. 113 BGG ;Art. 117 ZPO ;Art. 32 BV ;Art. 35 BV ;Art. 40 AIG ;Art. 43 AIG ;Art. 50 AIG ;Art. 51 AIG ;Art. 58a AIG ;Art. 6 EMRK ;Art. 62 AIG ;Art. 8 EMRK ;Art. 82 BGG ;Art. 84 AIG ;Art. 99 AIG ;
Referenz BGE:122 I 267; 129 I 49; 136 II 1; 138 II 229;
Kommentar:
-, Kommentar zum Zivilgesetzbuch, 1900

Entscheid des Verwaltungsgerichts AG WBE.2020.92

AG WBE.2020.92

WBE.2020.92 / sp / we ZEMIS [***]; (E.2019.018) Art. 54

Urteil vom 22. August 2024

Besetzung

Verwaltungsrichter Busslinger, Vorsitz Verwaltungsrichter Clavadetscher Verwaltungsrichter Ch. Huber Gerichtsschreiberin Peter

Beschwerdeführerin

A._____, von Kosovo vertreten durch MLaw Artan Sadiku, Rechtsanwalt, Eigenheimweg 10, 6010 Kriens gegen Amt für Migration und Integration Kanton Aargau, Rechtsdienst, Bahnhofplatz 3C, 5001 Aarau

Gegenstand

Beschwerdeverfahren betreffend Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung und Wegweisung Entscheid des Amtes für Migration und Integration vom 10. Februar 2020

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Das Verwaltungsgericht entnimmt den Akten: A. Die Beschwerdeführerin heiratete am 6. August 2018 im Kosovo einen in der Schweiz niederlassungsberechtigten Landsmann und reiste am 7. Oktober 2018 in die Schweiz ein (Akten des Amtes für Migration und Integration [MI-act.] 7 f., 61). Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde der Beschwerdeführerin keine Aufenthaltsbewilligung erteilt. Das Amt für Migration und Integration Kanton Aargau (MIKA) ging davon aus, dass die Beschwerdeführerin nicht bei ihrem Ehemann Wohnsitz genommen hatte, und stellte ihr daher mit Schreiben vom 5. Dezember 2018 den Widerruf der Einreiseermächtigung in Aussicht (MI-act. 66 f.). Hierauf nahm die Beschwerdeführerin am 14. Dezember 2018 Stellung und wies unter anderem darauf hin, Opfer ehelicher Gewalt geworden zu sein und sich deshalb nun im Frauenhaus aufzuhalten. Sie ersuchte um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung, eventualiter um Verlängerung ihres Visums (MI-act. 75 ff.). Beide Anträge wurden durch das MIKA mit Schreiben vom 19. Dezember 2018 formlos abgewiesen. Gleichzeitig erklärte sich das MIKA bereit, der Beschwerdeführerin eine Bestätigung auszustellen, womit sie berechtigt sei, den Ausgang des Verfahrens in der Schweiz abzuwarten (MI-act. 108). Am 11. Januar 2019 ersuchte die Beschwerdeführerin erneut um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung (MI-act. 121 ff.). Das MIKA verfügte am 1. Februar 2019 die Nichtverlängerung der Einreiseermächtigung und wies das Gesuch um Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ab. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin unter Ansetzung einer 30-tägigen Ausreisefrist aus der Schweiz weggewiesen (MI-act. 148 ff.). B. Gegen die Verfügung des MIKA erhob die Beschwerdeführerin mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 4. März 2019 beim Rechtsdienst des MIKA (Vorinstanz) Einsprache (MI-act. 161 ff.). Am 25. Februar 2019 bewilligte das Bezirksgericht V._____ das Getrenntleben der Eheleute (MI-act. 252). Mit Schreiben ihres Rechtsvertreters vom 23. April 2019 teilte die Beschwerdeführerin mit, das eheliche Zusammenleben mit ihrem Ehemann wieder aufgenommen zu haben (MI-act. 258). Am tt.mm.jjjj kam der gemeinsame Sohn zur Welt, welcher im Besitz der Niederlassungsbewilligung ist (MI-act. 283 f., 364). Mit Schreiben vom 6. August 2019 erklärte sich das MIKA bereit, seine Verfügung vom 1. Februar 2019

vorbehältlich der Zustimmung der Vorinstanz wiedererwägungsweise aufzuheben und eine Aufenthaltsbewilligung gestützt auf die Bestimmungen des Familiennachzugs zu erteilen (MI-act. 304). Mit Schreiben vom 19. August 2019 teilte die Beschwerdeführerin mit, wieder getrennt von ihrem Ehemann zu leben (MI-act. 313). Der Rechtsvertreter der Be-

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schwerdeführerin machte in der Stellungnahme vom 11. September 2019 geltend, es handle sich um eine vorübergehende Trennung der Eheleute (MI-act. 322). In der Folge forderte die Vorinstanz den Rechtsvertreter mit Verfügung vom 2. Oktober 2019 auf, zu den Unstimmigkeiten betreffend Zusammenleben der Eheleute Stellung zu nehmen (MI-act. 337 f.). Der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin reichte am 5. November 2019 eine Stellungnahme zu den Akten (MI-act. 349 f.). Weiter nahm die Vorinstanz den Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 30. Januar 2020 betreffend häuslicher Gewalt zu den Akten (MI-act. 362 ff.). Am 10. Februar 2020 erliess die Vorinstanz folgenden Einspracheentscheid (act. 1 ff.): 1. Die Einsprache wird abgewiesen. 2. Das Gesuch um Bewilligung der unentgeltlichen Rechtspflege wird abgewiesen. 3. Es werden keine Gebühren erhoben. 4. Er werden keine Parteientschädigungen zugesprochen.

Auf die Begründung wird, soweit erforderlich, in den folgenden Erwägungen eingegangen. C. Mit Eingabe ihres Rechtsvertreters vom 13. März 2020 reichte die Beschwerdeführerin beim Verwaltungsgericht des Kantons Aargau (Verwaltungsgericht) Beschwerde ein und stellte folgende Anträge (act. 15 ff.): 1. Der Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin vom 10.02.2020 sei aufzuheben und der Beschwerdeführerin die Aufenthaltsbewilligung zu verlängern sowie folgerichtig von einer Wegweisung abzusehen und der Beschwerdeführerin für das vorinstanzliche Verfahren die unentgeltliche Rechtspflege unter Beigabe des Unterzeichneten als ihren unentgeltlichen Rechtsbeistand zu gewähren. 2. Eventualiter sei der Einspracheentscheid der Beschwerdegegnerin aufzuheben und die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen. 3. Der vorliegenden Beschwerde sie die ihr von Gesetzes wegen zukommende aufschiebende Wirkung zu gewähren resp. davon Vormerk zu nehmen, dass diese von der Beschwerdegegnerin nicht entzogen wurde.

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4. Der mittellosen Beschwerdeführerin sei für das vorliegende Verfahren die integrale unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren sowie der Unterzeichnete als unentgeltlicher Rechtsbeistand einzusetzen. 5. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin. Verfahrensanträge: 6. Es sei der Beschwerdeführerin ein Replikrecht zu gewähren. 7. Zwecks Beurteilung der Angelegenheit seien von der Beschwerdeführerin (ZEMIS-Nr. [...]) die vollständigen Akten beizuziehen. 8. Zudem seien Zwecks Beurteilung der Angelegenheit die Akten der Staatsanwaltschaft W._____ ([...]) beizuziehen.

Die Begründung ergibt sich, soweit erforderlich, aus den nachstehenden Erwägungen. Mit Verfügung vom 27. August 2020 wies der Instruktionsrichter darauf hin, dass die Beschwerdeführerin nach wie vor verheiratet sei und sie unabhängig von ihrer persönlichen Bedürftigkeit von ihrem Ehemann einen Beitrag an die Prozesskosten für das vorliegende Verfahren einzufordern habe. Ohne weiteren schriftlichen Bericht bis zum 19. September 2020 sei davon auszugehen, dass das Verfahren betreffend Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege als stillschweigend zurückgezogen gelte (act. 30 ff.). Die Vorinstanz beantragte unter Festhaltung an ihren Erwägungen die Abweisung der Beschwerde und reichte aufforderungsgemäss die Akten ein (act. 33). Mit Eingabe vom 22. Oktober 2020 teilte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit, am Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege werde festgehalten, der Prozesskostenvorschuss sei beim Ehemann nicht einbringlich und die Beschwerdeführerin sei bedürftig (act. 41 ff.). Am 11. November 2020 nahm das Verwaltungsgericht von einem von der Beschwerdeführerin am 4. November 2020 unterzeichneten Arbeitsvertrag Kenntnis (act. 38). Nachdem die Beschwerdeführerin keine Aufstellung sämtlicher Einnahmen und Ausgaben vorgelegt, ihre Bedürftigkeit nicht belegt und auch nicht dargelegt hatte, dass ein Prozesskostenbeitrag bei ihrem Ehemann nicht gerichtlich eingefordert werden könne, lehnte der Instruktionsrichter des Verwaltungsgerichts mit Verfügung vom 18. November 2020 das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ab. Auf die Einforderung eines Kostenvorschusses wurde einstweilen verzichtet. Gleichzeitig wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, dem Verwaltungsgericht unverzüglich nach Vorliegen ihrer monatlichen Lohnabrechnungen diese einzureichen und Veränderungen ihrer

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finanziellen Verhältnisse, insbesondere Zahlungen ihres Ehemannes erfolgreiche Betreibungen, anzuzeigen (act. 47 ff.). Aufgrund eines gegen die Beschwerdeführerin eingeleiteten Strafverfahrens ersuchte die Staatsanwaltschaft M._____ am 11. Januar 2021 beim MIKA um Einsicht in die migrationsamtlichen Akten (act. 52 f.). Am 22. Januar 2021 nahm das Verwaltungsgericht die Verfügung der Sozialen Dienste P._____ vom 15. Januar 2021 zu den Akten (act. 56 ff.). Die Vorinstanz reichte eine Aktennotiz vom 15. Februar 2021 ins Recht, wonach die Beschwerdeführerin nach einer polizeilichen Mieterausweisung infolge Nichtbezahlens von sechs Monatsmieten seit dem 13. Februar 2021 in einer Sozialwohnung lebe (act. 62). Der diesbezügliche Bericht der Stadtpolizei O._____ vom 17. Februar 2021 wurde der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 3. März 2021 zur Kenntnisnahme zugestellt (act. 70 ff.). Mit Eingabe vom 23. März 2020 (richtig: 2021) teilte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin mit, sie habe ihre Arbeitsstelle verloren und könne mangels anderweitiger Betreuungsmöglichkeit für ihr Kind keine neue Arbeitsstelle antreten. Deshalb sei ihr die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren (act. 75 f.). Da die Beschwerdeführerin nach wie vor keine Aufstellung über sämtliche Einnahmen und Ausgaben vorlegte und auch nicht begründete, dass ihr Ehemann kein Prozesskostenbeitrag leisten könne, bestand für das Verwaltungsgericht keine Veranlassung, auf die rechtskräftige Abweisung des Gesuchs um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege vom 18. November 2020 zurückzukommen. Gleichzeitig verfügte der Instruktionsrichter die Sistierung des Verfahrens bis zum Abschluss des gegen die Beschwerdeführerin durch die Staatsanwaltschaft M._____ eingeleiteten Strafverfahrens (act. 77 f.). Am 12. Mai 2021 nahm das Verwaltungsgericht den Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 29. April 2021 samt Beilagen zu den Akten (act. 84 ff.). Ein beim Verwaltungsgericht eingegangener Arbeitsvertrag vom 3. September 2021 wurde der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme zugestellt (act. 95 ff.). Mit Verfügung vom 26. Januar 2022 nahm das Verwaltungsgericht die Anklageschrift der Staatsanwaltschaft M._____ vom 18. Januar 2022 zu den Akten (act. 109). Am 1. Februar 2022 ging beim Verwaltungsgericht die Verfügung der Sozialen Dienste P._____

vom 20. Februar 2022 ein (act. 111 ff.). Mit Eingabe vom 18. Mai 2022 legte der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin weitere Akten ins Recht (act. 117 ff.). Die Ehe der Beschwerdeführerin wurde am 17. August 2022 geschieden (act. 134). Mit Eingabe vom 18. Oktober 2022 wies der Rechtsvertreter der Beschwerdeführerin darauf hin, dass er Letztgenannte nicht länger vertrete (act. 142). Am 26. Oktober 2022 nahm das Verwaltungsgericht einen von der Beschwerdeführerin am 10. Oktober 2022 unterzeichneten Arbeitsvertrag zu den Akten (act. 150 ff.). Eine als Gesuch um Verlängerung der Auf-

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enthaltsbewilligung betitelte Eingabe der Beschwerdeführerin vom 14. November 2022 wurde von der Vorinstanz an das Verwaltungsgericht weitergeleitet (act. 156 ff.). Gemäss Beschluss der Sozialen Dienste P._____ vom 5. Januar 2023 konnte sich die Beschwerdeführerin per 31. Dezember 2022 von der Sozialhilfe ablösen (act. 161 f.). Mit Verfügung vom 4. September 2023 hob der Instruktionsrichter die Sistierung des Verfahrens auf, da mit Blick auf die neuste bundesgerichtliche Rechtsprechung die Wahrscheinlichkeit, dass gegen die Beschwerdeführerin im Rahmen des gegen sie hängigen Strafverfahrens eine Landesverweisung ausgesprochen würde, sehr klein erscheine. Zugleich wurde die Beschwerdeführerin aufgefordert, zu diversen Fragen Stellung zu nehmen und diesbezüglich allfällige Belege einzureichen (act.168 ff.). Nachdem sich die Beschwerdeführerin hierzu nicht vernehmen liess, wurde ihr mit Verfügung vom 30. November 2023 eine Nachfrist bis zum 3. Januar 2024 gesetzt (act. 171 f.). Am 20. Dezember 2023 ging beim Verwaltungsgericht die Verfügung der Staatsanwaltschaft M._____ vom 16. Dezember 2023 betreffend Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz ein (act. 174 ff.). Mit Eingabe ihres erneut beigezogenen Rechtsvertreters vom 3. Januar 2024 liess die Beschwerdeführerin Stellung nehmen und diverse Unterlagen einreichen (MI-act. 179 ff.). Die Vorinstanz hielt mit Eingabe vom 11. Januar 2024 weiterhin an ihren Erwägungen im angefochtenen Einspracheentscheid fest und beantragte die Abweisung der Beschwerde (act. 205). Die Meldung des Bundesamts für Justiz vom 24. Januar 2024 an die kantonale Ausländerbehörde betreffend eines hängigen Strafverfahrens (Widerhandlung gegen das Strassenverkehrsgesetz) sowie die E-Mail-Anfrage der Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin vom 16. Februar 2024 an die Vorinstanz wurden der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme zugestellt (act. 211 f.). Am 13. März 2024 nahm das Verwaltungsgericht den Strafbefehl der Staatsanwaltschaft M._____ vom 7. Februar 2024 zu den Akten (act. 213 ff., 216 f.). Die Beschwerdeführerin wurde u.a. wegen Führens eines Motorfahrzeuges ohne den erforderlichen Führerausweis mit einer Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 110.00 und einer Busse von Fr. 1'800.00 bestraft. Die am 12. April 2024 beim Verwaltungsgericht eingegangene Anfrage des

Migrationsamtes des Kantons Zürich vom 22. März 2024 wurde der Beschwerdeführerin zur Kenntnisnahme zugestellt (act. 220 f.). Am 1. Mai 2024 nahm das Verwaltungsgericht eine E-Mail der Arbeitgeberin der Beschwerdeführerin vom 29. April 2024 zu den Akten, wonach der Beschwerdeführerin gekündigt worden sei (act. 222 ff.). Der Polizeibericht der Kantonspolizei Aargau vom 2. Februar 2024 wurde der Beschwerdeführerin mit Verfügung vom 26. Juni 2024 samt Beilagen zur Kenntnisnahme zugestellt (act. 225 ff.). Mit Verfügung vom 29. Juli 2024 nahm das Verwaltungsgericht das begründete Urteil der Präsidentin des Bezirksgerichts R._____ vom 27. März 2023 zu den Akten (act. 338 ff.). Der Instruktionsrichter hielt zudem fest, dass die

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zuständige Staatsanwältin mitgeteilt habe, sie habe gegen dieses Strafurteil Berufung erklärt (act. 365 f.). Das Verwaltungsgericht hat den Fall auf dem Zirkularweg entschieden (vgl. § 7 des Gerichtsorganisationsgesetzes vom 6. Dezember 2011 [GOG; SAR 155.200]).

Das Verwaltungsgericht zieht in Erwägung: I. 1. Einspracheentscheide des MIKA können innert 30 Tagen seit Zustellung mit Beschwerde an das Verwaltungsgericht weitergezogen werden (§ 9 Abs. 1 des Einführungsgesetzes zum Ausländerrecht vom 25. November 2008 [EGAR; SAR 122.600]). Beschwerden sind schriftlich einzureichen und müssen einen Antrag sowie eine Begründung enthalten; der angefochtene Entscheid ist anzugeben, allfällige Beweismittel sind zu bezeichnen und soweit möglich beizufügen (§ 2 Abs. 1 EGAR i.V.m. § 43 des Gesetzes über die Verwaltungsrechtspflege vom 4. Dezember 2007 [Verwaltungsrechtspflegegesetz, VRPG; SAR 271.200]). Die Beschwerdeführerin beantragt mit ihrer Beschwerde unter anderem, ihre Aufenthaltsbewilligung sei zu verlängern. Das Verwaltungsgericht kann jedoch keine Aufenthaltsbewilligungen erteilen verlängern. Der Antrag ist daher so zu verstehen, dass das Verwaltungsgericht das MIKA gegebenenfalls anzuweisen habe, der Beschwerdeführerin sei eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, dies unter Vorbehalt der Zustimmung des Staatssekretariats für Migration (SEM; vgl. Art. 4 lit. d der Verordnung des EJPD über die dem Zustimmungsverfahren unterliegenden ausländerrechtlichen Bewilligungen und Vorentscheide vom 13. August 2015 [Verordnung des EJPD über das ausländische Zustimmungsverfahren, ZVEJPD; SR 142.201.1, Stand 1. Februar 2023]). Die Anweisung einer Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung fällt vorliegend ausser Betracht, da der Beschwerdeführerin bislang keine Aufenthaltsbewilligung erteilt wurde (siehe vorne lit. A). Im Übrigen richtet sich die vorliegende Beschwerde gegen den Einspracheentscheid der Vorinstanz vom 10. Februar 2020. Die Zuständigkeit des Verwaltungsgerichts ist somit gegeben. Auf die frist- und formgerecht eingereichte Beschwerde ist daher einzutreten. 2. Unter Vorbehalt abweichender bundesrechtlicher Vorschriften Bestimmungen des EGAR können mit der Beschwerde an das Verwaltungsgericht einzig Rechtsverletzungen, einschliesslich Überschreitung Miss-

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brauch des Ermessens, und unrichtige unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes gerügt werden. Die Ermessensüberprüfung steht dem Gericht jedoch grundsätzlich nicht zu (§ 9 Abs. 2 EGAR; vgl. auch § 55 Abs. 1 VRPG). Schranke der Ermessensausübung bildet das Verhältnismässigkeitsprinzip (vgl. BENJAMIN SCHINDLER, in: MARTINA CARONI/THOMAS GÄCHTER/DANIELA THURNHERR [Hrsg.], Stämpflis Handkommentar zum Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer [AuG], Bern 2010, N. 7 zu Art. 96 mit Hinweisen). In diesem Zusammenhang hat das Verwaltungsgericht gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung insbesondere zu klären, ob die Vorinstanz die gemäss Art. 96 des Bundesgesetzes über die Ausländerinnen und Ausländer und über die Integration vom 16. Dezember 2005 (Ausländer- und Integrationsgesetz, AIG; SR 142.20) relevanten Kriterien (öffentliche Interessen, persönliche Verhältnisse, Integration) berücksichtigt hat und ob diese rechtsfehlerfrei gewichtet wurden (vgl. BENJAMIN SCHINDLER, a.a.O., N. 9 zu Art. 96). Schliesslich ist im Rahmen einer Gesamtbetrachtung zu entscheiden, ob die getroffene Massnahme durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt erscheint (sog. Verhältnismässigkeit im engeren Sinn). 3. Der vorliegenden Beschwerde kommt gemäss § 46 VRPG von Gesetzes wegen aufschiebende Wirkung zu und diese wurde vorinstanzlich auch nicht entzogen, weshalb sich weitere Ausführungen hierzu erübrigen. II. 1. 1.1. Die Vorinstanz hält im angefochtenen Entscheid fest, die Ehegemeinschaft bestehe nicht mehr, weshalb sich die Beschwerdeführerin nicht mehr auf die Bestimmungen zum Familiennachzug nach Art. 43 Abs. 1 AIG berufen könne. Da die eheliche Gemeinschaft in der Schweiz nur wenige Monate und damit weniger als drei Jahre bestanden habe, könne sie auch aus Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG keinen Anspruch auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung ableiten. Ein Anspruch gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG sei ebenfalls zu verneinen. Es würden zwar Indizien vorliegen, wonach die Beschwerdeführerin zu Beginn des ehelichen Zusammenlebens und kurz vor der Trennung Momente ehelicher Gewalt durch ihren Ehegatten erlebt habe. Insgesamt sei aber nicht von einer ehelichen Gewalt auszugehen, welche die nach Art. 50 Abs. 2 AIG erforderliche Intensität erreiche. Auch

ein schwerwiegender persönlicher Härtefall im Sinne von Art. 30 Abs. 1 lit. b AIG sei zu verneinen. Die Nichtverlängerung der Aufenthaltsbewilligung und die Wegweisung der Beschwerdeführerin seien zudem mit Art. 8 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (EMRK; SR 0.101) sowie Art. 13 Abs. 1 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 (BV; SR 101) vereinbar.

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1.2. Die Beschwerdeführerin stellt sich in ihrer Beschwerde (act. 15 ff.) demgegenüber auf den Standpunkt, sie habe gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Art. 50 Abs. 2 AIG einen Anspruch auf Verlängerung bzw. Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Sie sei wiederholt Opfer ehelicher Gewalt geworden. Seit Beginn der Ehe habe sie ihr damaliger Ehemann systematisch geschlagen. Er und ihre Schwiegermutter hätten die Beschwerdeführerin gegen ihren Willen in der Wohnung eingesperrt und jegliche Kontaktmöglichkeiten zur Aussenwelt genommen. Mit Schlägen hätten der damalige Ehemann und die Schwiegermutter einen Schwangerschaftsabbruch erwirken wollen. Der Arzt habe die häusliche Gewalt bestätigt. Auch liege ein Polizeibericht betreffend häuslicher Gewalt vor. Nur weil die Beschwerdeführerin trotz dieser Gewalt nach einem Aufenthalt im Frauenhaus wieder zu ihrem damaligen Ehemann zurückgekehrt sei, dürfe die ausgeübte Gewalt nicht relativiert werden. Es handle sich dabei um ein typisches Verhalten. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung sei die eheliche Gewalt sodann lediglich glaubhaft zu machen, was vorliegend ohne Weiteres gelungen sei. Die Beschwerdeführerin bringt weiter vor, ihre soziale Wiedereingliederung in ihrem Heimatland sei stark gefährdet. Bei einer Rückkehr in den Kosovo würde sie sich ohne Erwerbseinkommen und ohne Unterkunft wiederfinden. Es gäbe dort keine Sozialleistungen. Als getrenntlebende und alleinerziehende Frau hätte sie im patriarchalischen Gesellschaftssystem im Kosovo mit Diskriminierung und Ächtung zu rechnen. Mittlerweile arbeite die Beschwerdeführerin zu 100 %, könne ihren Lebensunterhalt selbständig bestreiten und habe keine Schulden (act. 179 ff.). Auch würde der Kindsvater nun ebenfalls bei der Kindsbetreuung mithelfen. Die Beschwerdeführerin habe sich hier einen grossen Freundeskreis aufbauen können und sie verstehe Deutsch problemlos. Beim Schreiben und Reden habe sie allerdings noch ein paar Schwierigkeiten. 2. Die Beschwerdeführerin reiste nach entsprechender Visumserteilung und bewilligtem Gesuch um Familiennachzug legal in die Schweiz ein (MIact. 57 ff.). Bis zum heutigen Zeitpunkt wurde ihr keine Aufenthaltsbewilligung erteilt (siehe vorne lit. A). Dies ändert indessen nichts daran, dass aufgrund der Heirat mit einer in der Schweiz niederlassungsberechtigten

Person und dem unbestrittenen Zusammenleben hier in der Schweiz ein nachehelicher Anspruch auf eine Bewilligung zu prüfen ist, wie dies die Vorinstanz ebenfalls zutreffend ausführte. Gemäss dem Gesetzeswortlaut betrifft der Anspruch des Ehegatten auf eine Bewilligung nach Auflösung der Ehe nicht nur deren Verlängerung, sondern auch die Erteilung einer (neuen) Bewilligung (Art. 50 Abs. 1 AIG). Vorliegend ist daher zu prüfen, ob ein Rechtsanspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung besteht ob die ermessensweise Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung zur Diskussion steht. Die Ehe der Beschwerdeführerin mit ihrem niederlassungs-

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berechtigten Ehemann wurde am 17. August 2022 geschieden (act. 134). Im heutigen Zeitpunkt hat die Beschwerdeführerin daher keinen auf Art. 43 Abs. 1 AIG gestützten Anspruch mehr auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. Unbestritten ist sodann, dass die eheliche Gemeinschaft der Beschwerdeführerin mit dem niederlassungsberechtigten früheren Ehemann in der Schweiz weniger als drei Jahre bestanden hat (act. 7, 19 ff.). Somit fällt auch ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG ausser Betracht. Strittig ist hingegen, ob ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung im Rahmen von Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG besteht. 3. 3.1. Nachfolgend zu prüfen ist damit, ob die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG einen Anspruch auf Verbleib in der Schweiz hat, weil wichtige persönliche Gründe einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen. Die Beschwerdeführerin macht insbesondere geltend, Opfer ehelicher Gewalt geworden zu sein (siehe vorne Erw. II/1.2). 3.2. 3.2.1. Die Anspruchsregelung von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG kommt zum Tragen, wenn die anrechenbare eheliche Gemeinschaft weniger als drei Jahre gedauert hat und/oder die Integrationskriterien nach Art. 58a AIG nicht erfüllt sind (womit ein Anspruch gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. a AIG ausser Betracht fällt), jedoch aufgrund der gesamten Umstände ein nachehelicher Härtefall vorliegt. Dies ist dann der Fall, wenn es für den nachgezogenen Ehegatten aufgrund der Umstände eine unzumutbare Härte darstellen würde, müsste er die Schweiz nach Auflösung der Ehegemeinschaft wieder verlassen. Der Härtefall muss sich aus der Lebenssituation der betroffenen Person nach der Auflösung der Ehe und dem Dahinfallen der gestützt auf die Ehe erteilten Anwesenheitsberechtigung ergeben. Gemäss Art. 50 Abs. 2 AIG können wichtige persönliche Gründe, die einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen ­ d.h. einen nachehelichen Härtefall im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG begründen ­ namentlich dann vorliegen, wenn der nachgezogene Ehegatte Opfer ehelicher Gewalt geworden ist dieser die Ehe nicht aus freiem Willen geschlossen hat die soziale Wiedereingliederung im Herkunftsland stark gefährdet erscheint. Rechtsprechungsgemäss

kann darüber hinaus insbesondere auch der Tod des nachziehenden Ehegatten die Beziehung zu einem anwesenheitsberechtigten gemeinsamen Kind dazu führen, dass dem nachgezogenen Ehegatten ein nachehelicher Härtefall zu attestieren ist (eingehend zum Ganzen Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2020.401 vom 27. Juni 2022, Erw. II/5.3.2.1 unter Verweis auf das Urteil des Bundesgerichts 2C_830/2010 vom 10. Juni 2011, Erw. 3.1; vgl. auch

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BGE 138 II 229, Erw. 3, 139 II 393, Erw. 6, 140 II 289, Erw. 3.6.1 und 143 I 21, Erw. 4.2.1). 3.2.2. Bei der Beurteilung, ob wichtige Gründe im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG vorliegen, sind insbesondere die Konkretisierungen in Art. 31 VZAE zu beachten. Diese Bestimmung umschreibt in allgemeiner Form, dass bei Vorliegen eines schwerwiegenden persönlichen Härtefalls eine Aufenthaltsbewilligung erteilt werden kann. Sie bezieht sich gemäss Klammerverweis im Titel sowohl auf Art. 14 des Asylgesetzes vom 26. Juni 1998 (AsylG; SR 142.31) als auch auf den Anwendungsbereich des AIG (Art. 30 Abs. 1 lit. b, Art. 50 Abs. 1 lit. b und Art. 84 Abs. 5 AIG). In Art. 31 Abs. 1 VZAE werden folgende zu berücksichtigende Kriterien aufgelistet: -

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die Integration anhand der Kriterien von Art. 58a Abs. 1 AIG (Beachtung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Respektierung der Werte der Bundesverfassung, Sprachkompetenzen und Teilnahme am Wirtschaftsleben am Erwerb von Bildung; Art. 31 Abs. 1 lit. a VZAE), die familiären Verhältnisse unter besonderer Beachtung des Zeitpunkts der Einschulung und der Dauer des Schulbesuchs der Kinder (lit. c), die finanziellen Verhältnisse (lit. d), die Dauer der Anwesenheit in der Schweiz (lit. e), der Gesundheitszustand (lit. f) und die Möglichkeiten der Wiedereingliederung im Herkunftsstaat (lit. g).

Die Kriterien gemäss Art. 31 Abs. 1 VZAE beziehen sich einerseits auf härtefallbegründende Umstände und andererseits auf Aspekte des öffentlichen Interesses, die der Erteilung einer Härtefallbewilligung entgegenstehen können. Mit Blick auf Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG sind nur die härtefallbegründenden bzw. privaten Interessen massgebend, da es lediglich um die Frage geht, ob wichtige persönliche Gründe vorliegen, die einen weiteren Aufenthalt in der Schweiz erforderlich machen und somit einen Anspruch auf Erteilung einer neuen Aufenthaltsbewilligung und deren Verlängerung begründen. Besteht ein Anspruch im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG und liegen keine Erlöschensgründe im Sinne von Art. 51 Abs. 2 AIG vor, ist die Aufenthaltsbewilligung grundsätzlich zu erteilen bzw. zu verlängern (Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2016.545 vom 8. Mai 2018, Erw. II/3.1.2). 3.2.3. Die Bestimmung von Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG ist im Licht des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt vom 11. Mai 2011 (Istanbul-Konvention; SR 0.311.35) auszulegen (Urteil des Bundesgerichts 2C_915/2019 vom 13. März 2020, Erw. 5.2). Gemäss Art. 3 lit. b IstanbulKonvention fallen unter den Begriff der häuslichen Gewalt sämtliche Hand-

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lungen körperlicher, sexueller, psychischer wirtschaftlicher Gewalt, welche innerhalb der Familie des Haushalts zwischen früheren derzeitigen Eheleuten Partnerinnen bzw. Partnern vorkommen ­ unabhängig davon, ob der Täter bzw. die Täterin und das Opfer den gleichen Wohnsitz hatten haben (dazu eingehend Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2021.109 vom 28. März 2022, Erw. II/5.3.4.2). Auch wenn jegliche Form von Gewalt in der Ehe zu verurteilen ist, stellt nicht jede Gewaltanwendung unter Ehegatten bzw. im ehelichen Haushalt einen wichtigen Grund im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG dar (vgl. Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2013.314 vom 12. Dezember 2013, Erw. II/3.2.2; Entscheid des Rekursgerichts im Ausländerrecht 1-BE.2010.28 vom 9. Juni 2011, Erw. II/3.2.2; in diesem Sinne auch Urteil des Bundesgerichts 2C_922/2019 vom 26. Februar 2020, Erw. 3.1 unter Berücksichtigung von Art. 3 lit. b Istanbul-Konvention). Die eheliche Gewalt muss derart intensiv sein, dass die physische psychische Integrität des Opfers im Fall der Aufrechterhaltung der ehelichen Gemeinschaft schwer beeinträchtigt würde. Mit anderen Worten muss feststehen, dass die im Familiennachzug zugelassene Person durch das Zusammenleben in ihrer Persönlichkeit ernstlich gefährdet ist und ihr eine Fortführung der ehelichen Beziehung nicht länger zugemutet werden kann (BGE 136 II 1, Erw. 5.3; BGE 138 II 229, Erw. 3.2). Nach bundesgerichtlicher Rechtsprechung kann nicht nur physische Gewalt, sondern auch psychische bzw. sozioökonomische Druckausübung wie dauerndes Beschimpfen, Erniedrigen, Drohen und Einsperren einen für die Annahme eines nachehelichen Härtefalls relevanten Grad an häuslicher Unterdrückung (Oppression) erreichen. Dabei ist nicht jede unglückliche, belastende und nicht den eigenen Vorstellungen entsprechende Entwicklung einer Beziehung geeignet, einen nachehelichen Härtefall und ein weiteres Anwesenheitsrecht in der Schweiz zu begründen. Häusliche Unterdrückung bedeutet systematische Misshandlung mit dem Ziel, Macht und Kontrolle auszuüben, und ist dann als eheliche Gewalt im Sinne von Art. 50 Abs. 2 AIG zu qualifizieren, wenn grundlegende, verfassungs- und menschenrechtlich relevante Positionen des im Familiennachzug zugelassenen Ehegatten in schwerwiegender Weise

andauernd beeinträchtigt werden. Die psychische Zwangsausübung und deren Auswirkungen müssen somit von einer gewissen Konstanz bzw. Intensität sein (zum Ganzen BGE 138 II 229, Erw. 3.2.1 f. mit Hinweisen; Urteile des Bundesgerichts 2C_922/2019 vom 26. Februar 2020, Erw. 3.1, 2C_115/2022 vom 9. Juni 2022, Erw. 3.2, je mit weiterem Hinweis). Erreichen die erlittenen Nachteile die erforderliche Intensität, um als eheliche Gewalt im Sinne von Art. 50 Abs. 2 AIG berücksichtigt zu werden, liegt nicht in jedem Fall bereits ein wichtiger persönlicher Grund im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG vor. Zwar ist den von ehelicher Gewalt betroffenen

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Personen nicht zumutbar, in der ehelichen Gemeinschaft zu verharren. Eine Aufenthaltsbewilligung ist gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG aber nur dann zu erteilen und zu verlängern, wenn der Verbleib der betroffenen Person in der Schweiz aufgrund der gesamten Umstände des Einzelfalls erforderlich ist. Mit anderen Worten besteht keine Veranlassung, betroffenen Personen nach erlittener ehelicher Gewalt einen besonderen Schutz durch Erteilung einer eigenständigen Aufenthaltsberechtigung zukommen zu lassen, wenn es für sie bei objektiver Betrachtung ohne weiteres möglich ist, in ihr Heimatland zurückzukehren. Davon ist etwa dann auszugehen, wenn die Rückkehr nicht mit nennenswerten Nachteilen verbunden ist und nicht dazu führt, dass in der Schweiz geknüpfte, wichtige Beziehungen verloren gehen eine im Vergleich zum Heimatland markant bessere wirtschaftliche Position wieder aufgegeben werden müsste. Dem gesetzlich statuierten besonderen Schutz von Opfern ehelicher Gewalt ist dadurch Rechnung zu tragen, dass an die weiteren Aspekte, die für einen Verbleib in der Schweiz sprechen, weniger strenge Anforderungen zu stellen sind (vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-7294/2008 vom 23. November 2011, Erw. 6.2: "Die Anzeichen für häusliche Gewalt [...] rechtfertigen ­ selbst wenn für sich allein keine eigene Anspruchsgrundlage begründend ­ einen milderen Massstab bei der Beurteilung der Härtefallsituation"). Mit anderen Worten bedarf es bei Vorliegen ehelicher Gewalt, welche die erforderliche Intensität erreicht, um als eheliche Gewalt im Sinne von Art. 50 Abs. 2 AIG berücksichtigt zu werden, nur noch weniger zusätzlicher privater Interessen, damit insgesamt der weitere Aufenthalt in der Schweiz aufgrund wichtiger persönlicher Gründe im Sinne von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG erforderlich ist (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_915/2019 vom 13. März 2020, Erw. 5.2 mit Verweis auf Art. 1, 5 und 12 Istanbul-Konvention; vgl. auch Art. 59 Istanbul-Konvention). Sofern die durch das Bundesgericht in Bezug auf die eheliche Gewalt geforderte Schwelle überschritten wird, kann es grundsätzlich nicht mehr auf das konkrete Ausmass der erlittenen Gewalt ankommen. Dies gilt einerseits auch dann, wenn die geforderte Schwelle nur knapp überschritten wird, da nur so dem durch den Gesetzgeber statuierten besonderen

Schutz gewaltbetroffener Ehegatten gebührend Rechnung getragen werden kann und andererseits und im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung (vgl. z.B. Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2020.170 vom 23. November 2020, Erw. II/4.3.4.2) auch dann, wenn das Vorliegen eines wichtigen persönlichen Grunds einzig mit erlittener ehelicher Gewalt begründet wird (Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide [AGVE] 2011, S. 354, Erw. 3.2.2; Entscheid des Verwaltungsgerichts WBE.2020.273 vom 19. März 2021, Erw. II/4.3.4.2; vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_915/2019 vom 13. März 2020, Erw. 5.2). Bei Geltendmachung ehelicher Gewalt können die zuständigen Behörden entsprechende Nachweise verlangen (Art. 77 Abs. 5 und 6 VZAE) bzw. trifft

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die ausländische Person bei der Feststellung des entsprechenden Sachverhalts eine weitreichende Mitwirkungspflicht. Gemäss Art. 77 Abs. 6 VZAE gelten als Hinweise auf eheliche Gewalt insbesondere Arztzeugnisse, Polizeirapporte, Strafanzeigen, Massnahmen des Persönlichkeitsschutzes nach Art. 28b des Schweizerischen Zivilgesetzbuchs vom 10. Dezember 1907 (ZGB; SR 210) Strafurteile. Darüber hinaus kann der Nachweis ehelicher Gewalt auch durch Zeugenaussagen Berichte eines Frauenhauses einer Opferhilfestelle erbracht werden (MARC SPESCHA, in: MARC SPESCHA/ANDREAS ZÜND/PETER BOLZLI/CONSTANTIN HRUSCHKA/FANNY DE WECK [Hrsg.], Kommentar Migrationsrecht, 5. Aufl., Zürich 2019, N. 27 zu Art. 50 AIG). Allgemein gehaltene Behauptungen Hinweise auf punktuelle Spannungen genügen aber nicht. Wird eheliche Gewalt in Form psychischer Oppression behauptet, muss insbesondere die Systematik der Misshandlung bzw. deren zeitliches Andauern und die daraus entstehende subjektive Belastung objektiv nachvollziehbar konkretisiert und ­ soweit möglich ­ belegt werden (BGE 138 II 229, Erw. 3.2.3). Sollte sie nicht belegt werden können, ist die behauptete eheliche Gewalt zumindest glaubhaft zu machen. Bei Anwendbarkeit des Beweismasses der Glaubhaftmachung ist ausreichend, dass die Wahrscheinlichkeit eines Zutreffens der behaupteten Tatsachen höher eingeschätzt wird als die des Gegenteils (Urteil des Bundesgerichts 2C_165/2018 vom 19. September 2018, Erw. 2.2.2). 3.3. 3.3.1. 3.3.1.1. Einhergehend mit den vorinstanzlichen Erwägungen finden sich in den Akten mehrere Hinweise, welche die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte erlebte häusliche Gewalt stützen. Zunächst spricht hierfür, dass die Beschwerdeführerin, nachdem sie am 7. Oktober 2018 in die Schweiz eingereist war und in der Wohnung der Familie ihres damaligen Ehemannes gelebt hatte, bereits am 12. November 2018 Zuflucht in einem Frauenhaus suchte. Der Aufenthalt im Frauenhaus dauerte rund zwei Monate, gefolgt von einem Aufenthalt in einem betreuten Mutter-Kind-Studio (MIact. 144 f.). Zum Zeitpunkt des Eintritts in das Frauenhaus war die Beschwerdeführerin seit mehreren Monaten schwanger (vgl. MI-act. 215). Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass eine Frau während ihrer Schwangerschaft nicht ohne jeglichen Anlass für eine Dauer von mindestens

zwei Monaten Zuflucht in einem Frauenhaus sucht (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_215/2019 vom 24. Januar 2020, Erw. 6.2). Auch ist zu berücksichtigen, dass für die Finanzierung des Aufenthalts im Frauenhaus ­ welcher vorliegend rund zwei Monate dauerte ­ die Opferhilfe des Kantons Aargau über das Opferhilfegesetz Kostengutsprache erteilte (MIact. 144). Eine solche Kostengutsprache zur Soforthilfe setzt voraus, dass eine die Opferstellung begründende Straftat in Betracht fällt, wobei genügt, wenn dies glaubhaft gemacht wird (Urteile des Bundesgerichts

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1C_254/2023 vom 14. Dezember 2023, Erw. 3.3, 1C_653/2022 vom 3. Juni 2024, Erw. 4.1). Im Übrigen ist darauf hinzuweisen, dass Nationalund Ständerat erst kürzlich einer parlamentarischen Initiative zugestimmt haben, wonach für die Beurteilung, ob ein Ehegatte Opfer häuslicher Gewalt wurde, neu insbesondere folgende Hinweise zu berücksichtigen sind: Anerkennung als Opfer im Sinne des Opferhilfegesetzes durch die dafür zuständigen Behörden und Bestätigung einer notwendigen Betreuung Schutzgewährung durch eine auf häusliche Gewalt spezialisierte und in der Regel öffentlich finanzierte Fachstelle (vgl. Schlussabstimmungstext vom 14. Juni 2024, Bundesblatt [BBl] 2024 1449, Referendumsfrist läuft bis 3. Oktober 2024). Zusammenfassend sprechen der Eintritt und die Dauer des Aufenthalts im Frauenhaus sowie die Kostengutsprache durch die Opferhilfe dafür, dass die Beschwerdeführerin eheliche Gewalt erfahren hat und ihren Aussagen zu glauben ist. In den Akten finden sich weder ein Bericht der Opferhilfestelle noch eine Stellungnahme des Frauenhauses. Zur Abklärung des relevanten Sachverhalts wäre die Einholung solcher Berichte durch das MIKA und die Vorinstanz angezeigt gewesen. Aber auch die Beschwerdeführerin hätte sich darum bemühen müssen, dass solche Beweismittel Eingang in die Akten finden (vgl. vorne Erw. II/3.2.3 letzter Absatz). Nach nun mehr als fünf Jahren einen Bericht der Opferhilfe und des Frauenhauses einzuholen, erscheint vorliegend wenig zielführend. Es ist davon auszugehen, dass diese nicht mehr zur entscheidrelevanten Erhellung des Sachverhalts führen. Allerdings finden sich in den Akten, neben den Eingaben der Beschwerdeführerin, Einvernahmeprotokolle der involvierten Personen, Polizeirapporte und ärztliche Berichte, welche zeitnah zu den geltend gemachten Vorfällen erstellt wurden und anhand derer sich der relevante Sachverhalt ­ dies wird nachfolgend aufgezeigt ­ hinreichend erstellen lässt. Vor diesem Hintergrund ist auf die erwähnte Beweiserhebung zu verzichten. 3.3.1.2. Die Beschwerdeführerin liess durch ihre Rechtsvertretung Strafanzeige gegen ihren damaligen Ehemann und ihre damalige Schwiegermutter einreichen (MI-act. 78 ff.). Die Staatsanwaltschaft W._____ nahm die Strafsache zwar mit Verfügung vom 15. Januar 2019 nicht an die Hand, da den beschuldigten Personen kein

strafbares Verhalten nachgewiesen werden könne (MI-act. 353 f.). Die Anwendung von Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG setzt jedoch praxisgemäss keine strafrechtliche Verurteilung voraus. Eine ausländerrechtlich relevante psychische Gewalt kann auch vorliegen, wenn (noch) kein strafrechtlich relevantes Verhalten festgestellt ein entsprechendes Verfahren (aus welchen Gründen auch immer) eingestellt wurde (vgl. BGE 138 II 229, Erw. 3.3.3). Die Staatsanwaltschaft W._____ führte zur Begründung ihrer Nichtanhandnahmeverfügung zunächst aus, die beschuldigten Personen würden sämtliche gegen sie erhobenen Vorwürfe bestreiten und auch anlässlich einer ärztlichen Untersuchung vom 18. Dezember 2018 hätten keine Verletzungen bei der Beschwerde-

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führerin festgestellt werden können. Die Schwägerin der Beschwerdeführerin hätte die von Letztgenannter geltend gemachten Vorwürfe nicht bestätigen können und auch der im selben Haushalt lebende Schwiegervater habe keine Anzeichen für Übergriffe festgestellt. Weiter stützte sich die Staatsanwaltschaft W._____ auf eine Auswertung des Mobiltelefons der Beschwerdeführerin. Auch daraus hätten sich keine Hinweise auf strafbare Handlungen ergeben (MI-act. 354). Zur Verfügung der Staatsanwaltschaft W._____ ist Folgendes anzumerken: Gemäss dem Arztbericht vom 18. Dezember 2018 sei am Gesicht, an den Händen und an den Beinen der Beschwerdeführerin keine Gewalteinwirkung sichtbar gewesen. Eine Untersuchung des ganzen Körpers der Beschwerdeführerin sei allerdings nicht erfolgt (MI-act. 111). Anhand des Arztberichts lässt sich somit nicht abschliessend feststellen, ob bei der Beschwerdeführerin effektiv keine (körperlichen) Verletzungen vorhanden waren. Weiter findet sich in den Akten kein Protokoll und auch kein Rapport zu einer Einvernahme Befragung der Schwägerin des Schwiegervaters der Beschwerdeführerin. Im Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 29. Dezember 2018, in welchem die polizeilichen Ermittlungen zusammengefasst wurden, wurde eine solche Befragung der Schwägerin des Schwiegervaters ebenfalls nicht erwähnt (vgl. MI-act. 114 ff.). Es ist daher unklar, auf welcher Grundlage die von der Staatsanwaltschaft W._____ getroffene Annahme basiert. Auch die in der Nichtanhandnahmeverfügung erwähnte Auswertung des Mobiltelefons der Beschwerdeführerin fand keinen Eingang in die Akten und blieb auch im Rapport der Kantonspolizei Aargau unerwähnt (vgl. MIact. 114 ff.). Nach dem Gesagten ergeben sich anhand der Begründung der Nichtanhandnahmeverfügung der Staatsanwaltschaft W._____ vom 15. Januar 2019 keine aussagekräftigen Anhaltspunkte für die Beurteilung, ob die Beschwerdeführerin eheliche Gewalt erfahren hat und ob ihren diesbezüglichen Aussagen zu glauben ist. 3.3.1.3. Die Kantonspolizei Aargau kam in ihrem Rapport vom 29. Dezember 2018 (MI-act. 114 ff.) zum Schluss, dass aufgrund der komplett auseinandergehenden Aussagen der befragten Personen und der daraus resultierenden Diskrepanzen nicht beurteilt werden könne, inwiefern und ob überhaupt die von der Beschwerdeführerin geschilderten

Vorfälle ehelicher Gewalt passiert seien. Bezüglich der Verletzungen lägen keine Beweise vor. Der Spitalbericht vom 4. November 2018 bestätige lediglich eine leichte vaginale Blutung der Beschwerdeführerin nach dem Geschlechtsverkehr mit ihrem damaligen Ehemann. Die Arztberichte von C._____, Facharzt FMH für Gynäkologie und Geburtshilfe, würden mehrere Schwangerschaftskontrolluntersuche, welche eine unauffällige Schwangerschaft ergeben hätten, belegen. Ob die Schwiegermutter der Beschwerdeführerin in irgendeiner Weise einen Schwangerschaftsabbruch habe bewirken wollen, habe polizeilich nicht geklärt werden können (MIact. 118). Die Kantonspolizei Aargau stellte sodann folgende Diskrepanzen

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der Aussagen der befragten Personen fest (MI-act. 116): Die Beschwerdeführerin habe angegeben, ausser den Terminen beim Frauenarzt nie in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Gemäss dem Bericht des Spitals S._____ vom 4. November 2018 hat die Beschwerdeführerin allerdings das Spital am 20. Oktober 2018 wegen einer vaginalen Blutung aufgesucht. Zwar habe die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Einvernahme von einer solchen Blutung erzählt, habe jedoch angegeben, deswegen nicht in ärztlicher Behandlung gewesen zu sein. Diese Diskrepanz lässt sich anhand des Protokolls der Einvernahme der Beschwerdeführerin vom 5. Dezember 2018 (MI-act. 231) und dem Bericht des Spitals S._____ vom 4. November 2018 (MI-act. 215) ohne Weiteres überprüfen und bestätigen. Sodann habe die Beschwerdeführerin ausgesagt, sie sei in der Wohnung eingesperrt worden und habe nur drei Mal das Haus verlassen können. Hierzu hielt die Kantonspolizei Aargau in ihrem Rapport fest, die Schwiegermutter der Beschwerdeführerin habe anlässlich ihrer Einvernahme ein Video einer Feier ­ welche im fraglichen Zeitraum stattgefunden habe ­ gezeigt, worin die Beschwerdeführerin tanzend und fröhlich zu sehen gewesen sei. Zudem sei die ganze Familie auch einmal in X._____ gewesen und es habe mehrmals Einkäufe gegeben, bei denen die Beschwerdeführerin dabei gewesen sei. Davon habe auch der Ehemann der Beschwerdeführerin während seiner Einvernahme berichtet. Deshalb ­ so die Kantonspolizei Aargau ­ werde an der Aussage der Beschwerdeführerin, sie habe das Haus in der fraglichen Zeit nur drei Mal verlassen, gezweifelt (MI-act. 116). Aufgrund dessen, dass ­ während die Beschwerdeführerin bei der Familie ihres damaligen Ehemannes wohnte ­ drei Arztbesuche der Beschwerdeführerin aktenkundig sind (vgl. MI-act. 116) und zumindest der Besuch einer Feier mit Videos und Fotos belegt sein dürfte (vgl. MI-act. 117), erscheint die Angabe der Beschwerdeführerin, wonach sie die Wohnung nur dreimal verlassen habe, wenig glaubhaft. Auch wenn solche Diskrepanzen grundsätzlich gegen die Glaubhaftigkeit einer Aussage sprechen, fallen diese für sich allein nicht entscheidwesentlich ins Gewicht, was nachfolgend aufzuzeigen ist. Weshalb die Beschwerdeführerin den Spitalbesuch anlässlich ihrer Einvernahme nicht erwähnte, lässt sich aufgrund der Akten nicht feststellen. Sie

wurde von der Kantonspolizei Aargau diesbezüglich auch nicht weiter befragt bzw. damit konfrontiert. Hinzu kommt, dass der Spitalbericht die Angaben der Beschwerdeführerin belegt, wonach bei ihr vaginale Blutungen aufgetreten sind (MI-act. 215), was wiederum für eine glaubhafte Aussage der Beschwerdeführerin spricht. Hingegen lässt sich auch anhand des Spitalberichts nicht abschliessend feststellen, weshalb die Blutungen aufgetreten sind. Zwar steht im Bericht, die vaginale Blutung sei nach zweifachem Geschlechtsverkehr aufgetreten. Wer diese Angaben gegenüber dem ärztlichen Personal geäussert hat, geht aus dem Bericht indessen nicht hervor. So war der damalige Ehemann der Beschwerdeführerin gemäss seinen Angaben an diesem Notfalltermin im Spital anwesend (MI-act. 238) und er spricht ­ im Gegensatz zur Beschwerdeführerin ­ die deutsche Sprache. Die zweite polizeilich festgestellte Diskrepanz betrifft

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sodann eine Anzahl, also wie oft die Beschwerdeführerin das Haus tatsächlich verlassen haben soll. Von Relevanz, zumindest für das vorliegende Verfahren, ist indessen vielmehr, ob die Beschwerdeführerin das Haus allein verlassen konnte ob dies ­ wie von ihr geltend gemacht ­ jeweils nur in Begleitung ihres damaligen Ehemannes und/oder ihrer damaligen Schwiegermutter möglich war. Abgesehen von den Arztbesuchen beschränken sich im Übrigen auch die Angaben der beschuldigten Personen bloss auf zwei bis drei konkret genannte Ausflüge der Familie: den Besuch einer Feier, den Ausflug nach X._____ und einen Kleidereinkauf (MIact. 236 f., 243 f.). Insgesamt liegt die von beiden Seiten angegebene Anzahl Ausflüge somit nicht wesentlich auseinander. Zusammenfassend erweist sich der Polizeirapport vom 29. Dezember 2018 nach dem Gesagten für die im vorliegenden Verfahren vorzunehmende Beurteilung, ob dem Vorbringen der Beschwerdeführerin zu glauben ist, ebenfalls als kaum aussagekräftig. 3.3.1.4. Vorliegend sind daher die Aussagen der Beschwerdeführerin, ihres damaligen Ehemannes und ihrer damaligen Schwiegermutter zu beurteilen. Hinsichtlich möglicher Gewaltdelikte sind die Aussagen des angeblichen Opfers und des angeblichen Täters von entscheidender Bedeutung. Diese sind auf ihre aussagebezogene Glaubhaftigkeit hin zu untersuchen (BGE 129 I 49, Erw. 5; 128 I 81, Erw. 2). Kennzeichen für eine glaubhafte Aussage sind die innere Geschlossenheit der Darstellung des Geschehensablaufs, die Konstanz der Aussagen im Zuge verschiedener Befragungen, die raumzeitliche Verknüpfung, der Detailreichtum und die Selbstbelastung unvorteilhafte Darstellung der eigenen Rolle (VOLKER DITTMANN, Zur Glaubhaftigkeit von Zeugenaussagen, in: Plädoyer 2/1997, S. 33 f.). Was die Einvernahme der Beschwerdeführerin vom 5. Dezember 2018 anbelangt, gilt es vorab ein paar Auffälligkeiten festzuhalten: Zu Beginn ihrer Einvernahme fasste die Beschwerdeführerin die Vorfälle häuslicher Gewalt grob zusammen. Daraufhin wurde sie von der Kantonspolizei Aargau mit der von ihrem damaligen Ehemann erstatteten Vermisstenanzeige konfrontiert. Die Kantonspolizei Aargau führte aus, eine solche Anzeige bedeute viel Aufwand und fragte die Beschwerdeführerin, weshalb sie nicht gleich zur Polizei gegangen sei (MI-act. 224). Bereits zu Beginn der

Einvernahme wurde die Beschwerdeführerin von der Kantonspolizei Aargau somit einerseits kritisiert und andererseits mit einer vorwurfsvollen Frage konfrontiert. Ein solches Vorgehen seitens der Polizei kann Abwehr zur Folge haben bzw. ein Abwehrverhalten provozieren, was zu Verfälschungen gar Lügen führen kann. Mithin ist mit einem Qualitätsverlust der Antworten zu rechnen (BENDER/HÄCKER/SCHWARZ, Tatsachenfeststellung vor Gericht, 5. Aufl., München 2021, S. 230, Rn. 977 f.). Hinzu kommt, dass im Umgang mit (möglicherweise) traumatisierten Aussagepersonen

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und sonst hochemotionalen Befragungsthemen ein nochmals gesteigert einfühlsamer, zugewandter und emphatischer Befragungsstil erforderlich ist (BENDER/HÄCKER/SCHWARZ, a.a.O., S. 267, Rn. 1151 f.). Diesem Anspruch ist die Kantonspolizei Aargau anlässlich der Einvernahme der Beschwerdeführerin nicht nachgekommen. Die Beschwerdeführerin zeigte denn auch angesichts der angespannten emotionalen Ausgangslage bereits zu Beginn der Einvernahme eine emotionale Reaktion (MI-act. 224). Für die Beurteilung der Aussagequalität der Beschwerdeführerin bzw. der Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen ist weiter zu beachten, dass ihre Einvernahme mit Hilfe eines Dolmetschers erfolgte (MI-act. 222). Aufgrund der Sprachschwierigkeiten und ggf. unzureichender Übersetzungen können typischerweise eine Vielzahl wichtiger Glaubhaftigkeitsattribute und -merkmale wie Farbigkeit und Detailreichtum verloren gehen (BENDER/ HÄCKER/SCHWARZ, a.a.O., S. 262, Rn. 1132). Diesen Gegebenheiten ist bei der Beurteilung der Glaubhaftigkeit der Aussagen der Beschwerdeführerin entsprechend Rechnung zu tragen. Anlässlich der delegierten Einvernahme vom 5. Dezember 2018 führte die Beschwerdeführerin aus, nach ihrer Einreise in die Schweiz sei zunächst alles gut gewesen. Ihr Ehemann sei sehr ruhig und anständig gewesen. Zu Beginn der Schwangerschaft habe er sich noch sehr auf das gemeinsame Kind gefreut, bis er von seiner Mutter beeinflusst worden sei (MI-act. 224, 229). So habe er der Beschwerdeführerin mit der rechten Faust auf den Bauch geschlagen. Danach seien bei ihr Blutungen aufgetreten. Einen Arzt habe sie in der Folge nicht aufgesucht, ihr Ehemann habe aber mit einem Frauenarzt telefoniert. Bei diesem Vorfall seien ihre Schwiegermutter und ihre Schwägerin anwesend gewesen. Ihr Ehemann habe damals gesagt, er müsse machen, was seine Mutter von ihm verlange. Sie ­ die Beschwerdeführerin ­ wisse nicht mehr, wann dies genau passiert sei. Es sei ungefähr zweieinhalb Wochen nach ihrer Einreise in die Schweiz passiert. Sie könne sich nicht genau erinnern, sie fühle sich seit ein paar Tagen nicht gut und sie würde vieles wieder vergessen (MI-act. 224, 226, 231). Kurz vor ihrer Flucht ins Frauenhaus habe ihr Ehemann fast jede Nacht, als sie am Schlafen gewesen sei, seinen Ellbogen in ihren Bauch gestossen. Dies habe ihr Schmerzen bereitet und sie habe

deswegen auch weinen müssen. Sie habe das Gefühl, dass er das gemacht habe, damit sie ihr Kind verlieren würde. Sie sei aber nicht sicher. Im Übrigen habe er manchmal nicht mit ihr geredet er habe sie auch mal laut angeschrien, beschimpft habe er sie aber nicht (MI-act. 227). Schliesslich führte die Beschwerdeführerin aus, ihren Ehemann immer noch zu lieben. Sie wolle nicht, dass ihr Kind ohne Vater aufwachse. Wenn ihr Ehemann eine eigene Wohnung mieten würde, wäre sie bereit, wieder mit ihm zusammenzuleben. Mit ihrer Schwiegermutter könne sie aber nicht mehr zusammenwohnen (MIact. 232).

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Zu den von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Vorfällen häuslicher Gewalt durch ihre damalige Schwiegermutter geht aus der delegierten Einvernahme vom 5. Dezember 2018 im Wesentlichen Folgendes hervor: Ungefähr eine Woche nach der Einreise in die Schweiz habe es mit den Vorfällen mit der Schwiegermutter angefangen (MI-act. 228). Die Schwiegermutter habe sie beschimpft, ihr an den Haaren gerissen und habe ihr Ohrfeigen gegeben. Wie oft dies passiert sei, könne sie nicht genau sagen, vielleicht zehn- bis zwanzigmal. Die Schwiegermutter habe ihr zudem ungefähr drei- bis viermal gegen den Kopf geschlagen, sodass sie fast bewusstlos geworden sei (MI-act. 224, 227 f.). Einmal habe die Schwiegermutter ihre flache Hand auf den Bauch der Beschwerdeführerin gehalten, dann mit der Hand nach unten gedrückt und dabei gesagt, dass es das Kind nicht geben würde. Dies sei im Badezimmer passiert, etwa vier bis fünf Tage nach dem Vorfall mit ihrem Ehemann und dem Faustschlag in den Bauch (MI-act. 229). Jeden Tag habe ihre Schwiegermutter Druck auf sie ausgeübt (MI-act. 228). Die Vorfälle seien mehrheitlich nachmittags passiert, wenn ihr Ehemann nicht zuhause gewesen sei. Ihre Schwägerin und ihr Ehemann seien aber bei ein paar Vorfällen mit der Schwiegermutter anwesend gewesen. Nur der Schwiegervater habe nie etwas gesehen, weil er am Arbeiten gewesen sei (MI-act. 229). Weiter sei sie von ihrer Schwiegermutter und ihrem Ehemann dazu aufgefordert worden, ihr Kind abzutreiben (MI-act. 224, 226). Ihre Schwiegermutter habe ihr zudem gedroht, dass sie keine Aufenthaltsbewilligung erhalten würde, wenn sie das Kind behalte. Die Schwiegermutter habe auch gesagt, sie müsse ihr Kind abtreiben, sonst würde die Beschwerdeführerin ihren Bruder nie mehr sehen (MIact. 229). Weiter habe die Schwiegermutter verlangt, dass sie bei Telefonaten der Beschwerdeführerin mit ihrer Familie anwesend sein wolle. Die Beschwerdeführerin habe ihre Mutter über diese Vorkommnisse per SMS informiert. Dieselbe SMS sei ihrer Schwägerin zugestellt worden, was Letztgenannte der Schwiegermutter der Beschwerdeführerin mitgeteilt habe. In der Folge habe ihr die Schwiegermutter das Mobiltelefon weggenommen. Dies sei am 11. November 2018 passiert. Ein Tag später sei die Beschwerdeführerin ins Frauenhaus geflüchtet (MI-act. 230). Weiter sei sie von

ihrer Schwiegermutter in der Wohnung eingesperrt worden. Die Beschwerdeführerin habe keinen Wohnungsschlüssel gehabt. Dies sei jeden Tag, manchmal den ganzen Tag so gewesen, je nach Arbeitszeit der Schwiegermutter. Die Beschwerdeführerin habe keine Möglichkeit gehabt, die Wohnung zu verlassen (MI-act. 230). Dreimal habe sie die Wohnung verlassen können, allerdings stets in Begleitung ihres Ehemannes ihrer Schwiegermutter (MI-act. 231). Da sie in der Wohnung eingesperrt worden sei, habe sie die erlittenen Verletzungen, wie blaue Flecken und Beulen, niemandem zeigen können (MI-act. 231). Es ist festzustellen, dass die Beschwerdeführerin ihren damaligen Ehemann nicht unnötig belastete, indem sie bspw. darauf hinwies, dass er sie nie beschimpft habe dass er sich zunächst auf das Kind gefreut habe,

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bis er von seiner Schwiegermutter beeinflusst worden sei. Dies ist als Realitätskriterium zu werten (BENDER/HÄCKER/SCHWARZ, a.a.O., S. 111, Rn. 471 f.; DITTMANN, a.a.O., S. 34). Auch zeugen die Schilderungen der Beschwerdeführerin mindestens betreffend dreier Vorfälle (Faustschlag in den Bauch durch Ehemann, Halten der Hand der Schwiegermutter auf den Bauch im Badzimmer, Stossen des Ellbogens durch Ehemann im Bett und welche Personen jeweils anwesend waren) von einem gewissen Detailreichtum, was ebenfalls für eine glaubhafte Äusserung spricht (BENDER/HÄCKER/SCHWARZ, a.a.O., S. 100, Rn. 425). Hinzu kommt, dass die Schilderung der Beschwerdeführerin, wonach ihre damalige Schwiegermutter und später auch ihr Ehemann das zu jenem Zeitpunkt noch ungeborene Kind nicht hätten haben wollen, in den Akten zumindest teilweise eine Stütze findet. So führt der Frauenarzt im Bericht vom 18. Dezember 2018 aus, dass die Schwiegermutter der Beschwerdeführerin anlässlich einer Schwangerschaftskontrolluntersuchung eine eventuelle Interruptio erwähnt habe. Auch hielt der Arzt in seinem Bericht ausdrücklich fest, er habe beobachtet, dass die Schwiegermutter die Beschwerdeführerin nie aus den Augen gelassen habe. Als die Schwiegermutter zur Toilette gegangen sei, habe die Beschwerdeführerin gegenüber einer Mitarbeiterin, welche dieselbe Sprache spreche, gesagt, Angst zu haben, weil sie zuhause geschlagen werde (MI-act. 111). Der damalige Ehemann sowie die damalige Schwiegermutter der Beschwerdeführerin haben anlässlich ihrer jeweiligen Einvernahme vom 12. Dezember 2018 alle von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Vorfälle häuslicher Gewalt bestritten (MI-act. 234 ff., 241 ff.). Beide führten aus, dass die Beschwerdeführerin traurig gewesen sei, als sie erfahren habe, dass es ein Junge gebe. Deswegen sei sie vor dem Arzt zusammengebrochen (MI-act. 235, 238, 243). In den Berichten des Spitals und des Frauenarztes finden diese Schilderungen, insbesondere der erwähnte Zusammenbruch der Beschwerdeführerin, keine Erwähnung (vgl. MI-act. 111, 215). Weiter vermögen die Aussagen des damaligen Ehemannes und der damaligen Schwiegermutter, wonach es der Beschwerdeführerin immer gut gegangen sei (MI-act. 235, 243), nicht auszuschliessen, dass auch die Aussagen der Beschwerdeführerin zutreffen können. Denn auch wenn die

Beschwerdeführerin auf den von ihrem damaligen Ehemann und ihrer damaligen Schwiegermutter vorgelegten Fotos bzw. Videos fröhlich zu sehen ist (MI-act. 238, 246), vermag dies nicht zu belegen, dass die Beschwerdeführerin nicht auch eheliche Gewalt erfahren haben könnte. Im Übrigen wurden weder die damalige Schwiegermutter noch der damalige Ehemann mit dem Inhalt des Schreibens des Frauenarztes vom 18. Dezember 2018 konfrontiert. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Einvernahme vom 5. Dezember 2018 anhand der Aussageanalyse tendenziell glaubhaft erscheinen. Dies auch vor dem Hin-

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tergrund, dass ­ wie oben ausgeführt ­ aufgrund des Vorgehens der Kantonspolizei Aargau anlässlich der Einvernahme von einer reduzierten Aussagequalität der Beschwerdeführerin auszugehen ist. Hinzu kommt, dass die Aussagen der Beschwerdeführerin in den Akten zumindest teilweise eine Stütze finden. Dies spricht ebenfalls für eine glaubhafte Aussage der Beschwerdeführerin. 3.3.1.5. Die Beschwerdeführerin liess zu ihrem persönlichen Schutz auch eheschutzrechtliche Massnahmen durch ihre Rechtsvertretung einleiten und das Bezirksgericht V._____ erliess superprovisorisch ein Kontakt- und Annäherungsverbot für den damaligen Ehemann der Beschwerdeführerin (Verfügung des Bezirksgerichts Kulm vom 21. November 2018, MIact. 98 ff.). Dies spricht zunächst dafür, dass zwischen den Eheleuten etwas vorgefallen ist. Indessen beruht der Erlass dieser superprovisorischen Massnahme allein auf den Angaben der Beschwerdeführerin und der Tatsache, dass sie mit denselben Angaben eine Strafanzeige erhoben hatte (vgl. MI-act. 99). Insoweit ist die Aussagekraft der superprovisorischen Massnahme für die Beurteilung der von der Beschwerdeführerin geltend gemachten ehelichen Gewalt zu relativieren. Anlässlich der eheschutzrechtlichen Verhandlung vom 25. Februar 2019 zog die Beschwerdeführerin ihren Antrag für ein Kontakt- und Annäherungsverbot zurück (MI-act. 330). Dies, nachdem sich der Ehemann bei ihr entschuldigt und das Geschehene bereut habe. Wohl auch, damit das zu diesem Zeitpunkt noch ungeborene Kind nicht ohne Vater aufwachse, haben die Eheleute wieder ein gemeinsames Eheleben aufgenommen. Sie zogen in eine andere Wohnung, ohne die Familienmitglieder des Ehemannes (MIact. 185, 161 ff., 263 f., 313; act. 18). Aus den Akten geht weiter hervor, dass der gemeinsame Sohn am tt.mm.jjjj geboren wurde (MI-act. 283 f.). Dass es kurze Zeit später wieder zu Vorfällen ehelicher Gewalt gekommen ist und auch ­ obwohl nicht mehr im selben Haushalt wohnend ­ die Schwiegermutter eine Rolle bei diesen Zwischenfällen gespielt haben dürfte, ergibt sich aus einem Schreiben des Frauenarztes vom 8. August 2019 (MI-act. 307) und einem weiteren Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 19. Februar 2020 betreffend häusliche Gewalt (MI-act. 381 ff.). Der Frauenarzt berichtet im Schreiben vom 8. August 2019 von einem erneuten auffälligen Verhalten

insbesondere der Schwiegermutter der Beschwerdeführerin. Er führt aus, dass es im Juli mit den Bedrohungen seitens der Schwiegermutter angefangen habe und nun auch der Ehemann der Beschwerdeführerin ihr mit Kindesentzug und "Abschaffungen" drohe. Er werde die Beschwerdeführerin psychisch dermassen kaputt machen, dass sie nie mehr ihr Kind sehen werde. Der Arzt wies darauf hin, dass die Situation vor ein paar Tagen eskaliert sei und der Ehemann die Beschwerdeführerin samt dem gemeinsamen Kind aus der Wohnung geworfen habe. Später habe er ihr geschrieben, sie könne nun doch nach Hause kommen und er würde aus der Wohnung gehen. Die Beschwerdeführerin habe kein

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Geld und könne keine wichtigen Sachen für ihr Kind besorgen. Der Ehemann melde sich nur noch, um der Beschwerdeführerin zu drohen und um ihr mitzuteilen, dass er sich bei seiner neuen Freundin aufhalte. Die Beschwerdeführerin habe sich dann bei der Arztpraxis gemeldet und sie hätten die Beschwerdeführerin finanziell unterstützt. Dem Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 19. Februar 2020 ist zu entnehmen, eine Drittperson habe sich am 29. Januar 2020, um 22.14 Uhr, gemeldet, da sie die Beschwerdeführerin mit ihrem Baby angetroffen habe und diese von ihrem grossen Problem mit dem Ehemann berichtet habe. In der Folge sei die Stadtpolizei O._____ an den von der Drittperson genannten Ort ausgerückt (MI-act. 382). Aus dem Rapport geht weiter hervor, dass etwa zwei Tage davor die Schwiegermutter gegenüber der Mutter der Beschwerdeführerin mit dem Tod ihres Sohnes, dem Bruder der Beschwerdeführerin, gedroht habe. Weiter habe der Ehemann der Beschwerdeführerin ihr ein Dokument des MIKA übersetzt, wonach sie am 15. März 2020 die Schweiz zu verlassen habe (MI-act. 382). Gemäss den weiteren Angaben der Beschwerdeführerin sei es seit der Auflösung des gemeinsamen Wohnsitzes zu keiner weiteren häuslichen Gewalt durch den Ehemann gekommen. Das Verhältnis zu ihm sei gut. Das Problem sei die Schwiegermutter. Das vom Ehemann übersetzte Dokument konnte der Beschwerdeführerin anlässlich der Einvernahme auf dem Polizeiposten korrekt übersetzt werden. Die Beschwerdeführerin habe dabei sichtlich erleichtert gewirkt, nachdem sie erfahren habe, dass sie die Schweiz nicht ­ wie von ihr angenommen ­ innert Frist verlassen müsse (MI-act. 383). Sowohl der Bericht des Frauenarztes vom 8. August 2019 sowie der Rapport der Kantonspolizei Aargau vom 19. Februar 2020 beschreiben ein Verhalten bzw. Vorfälle, welche in ihrer Art und Weise mit den von der Beschwerdeführerin geltend gemachten Vorfällen, welche vor ihrem Eintritt in das Frauenhaus passiert sind, im Einklang stehen. Die vom Arzt beschriebenen Vorfälle passen zu den im Polizeibericht betreffend häusliche Gewalt festgehaltenen Ereignissen: Drohung durch die Schwiegermutter und den Ehemann mit Kindesentzug und Ausschaffung. Die Beschwerdeführerin sah sich erneut gezwungen, Hilfe zu suchen und machte dies gegenüber ihrem Frauenarzt sowie einer unbekannten Drittperson und

schliesslich auch gegenüber der Polizei geltend. Erneut ­ wie bereits anlässlich ihrer Einvernahme vom 5. Dezember 2018 ­ belastete die Beschwerdeführerin ihren damaligen Ehemann nicht unnötig, was ein Realitätskriterium darstellt (vgl. vorne Erw. II/3.3.1.4). Im Übrigen finden sich auch im Urteil der Präsidentin des Bezirksgerichts R._____ vom 27. März 2023 Angaben zum von der Beschwerdeführerin beschriebenen Verhalten ihres damaligen Ehemannes. Im Rahmen der in diesem Strafverfahren erfolgten Einvernahme vom 22. März 2021 gab die Beschwerdeführerin unter anderem an, dass sie mit ihrem damaligen Ehemann nach dem erneuten Zusammenleben ab März 2019 anfänglich einigermassen gut ausgekommen sei, bis er sein Verhalten geändert und ihr mit der Wegnahme des Sohnes gedroht habe (act. 345 f.). An der Konfrontationseinvernahme vom 16. Juli 2021 sagte die Beschwerdeführerin aus,

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ihr damaliger Ehemann sei in der Nacht vom 6. August 2019 nach einem Streit ausgezogen. Am nächsten Tag habe sie ihrem Rechtsanwalt eine SMS geschrieben, welche im Rahmen des Strafverfahrens nach entsprechender Entbindung vom Anwaltsgeheimnis offengelegt wurde. In der SMS schrieb die Beschwerdeführerin unter anderem, dass ihr damaliger Ehemann sie verlassen und ihr nichts zurückgelassen habe. Zusammen mit seiner Familie malträtiere er sie und wolle sie in eine Depression treiben (act. 346). Anlässlich der strafrechtlichen Hauptverhandlung vom 27. März 2023 führte die Beschwerdeführerin unter anderem aus, sie sei malträtiert worden und während ihrer Schwangerschaft ins Frauenhaus gegangen. Sie habe Probleme mit den Schwiegereltern gehabt und dies auch, nachdem sie mit ihrem damaligen Ehemann in eine andere Wohnung gezogen sei. Nachdem ihr damaliger Ehemann im August 2019 ausgezogen sei, habe sie kein Geld für Essen gehabt und habe das Kind mit Kamillentee ernähren müssen, bis sie von der Sozialhilfe Geld bekommen habe (act. 347 f.). Die Präsidentin des Bezirksgerichts R._____ erachtete die Aussagen der Beschwerdeführerin als glaubhaft und ging in der Folge davon aus, dass sie sich zum damaligen Zeitpunkt in einer finanziellen und emotionalen Not befunden habe (act. 359). Insgesamt tragen die nach erneutem Zusammenleben der Eheleute aufgetretenen Ereignisse, welche im Arztbericht, im Polizeirapport und im Strafurteil der Präsidentin des Bezirksgerichts R._____ eine Stütze in den Akten finden, dazu bei, dass die von der Beschwerdeführerin geltend gemachte eheliche Gewalt als schlüssig und folglich glaubhaft erscheint. 3.3.1.6. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass aufgrund des Eintritts und der Aufenthaltsdauer im Frauenhaus, der Aussageanalyse der Einvernahme der Beschwerdeführerin, dem die Aussagen der Beschwerdeführerin teilweise bestätigenden Bericht des Frauenarztes, den Umständen des erneuten Zusammenlebens sowie den danach vorgefallenen Zwischenfällen die Aussagen der Beschwerdeführerin insgesamt glaubhaft erscheinen. 3.3.2. Die Vorinstanz war der Ansicht, die Beschwerdeführerin habe zu Beginn des ehelichen Zusammenlebens und kurz vor der Trennung Momente ehelicher Gewalt durch ihren damaligen Ehemann erlebt. Auch sei die zuweilen äusserst schwierige und vom Ehegatten wie auch dessen

Mutter dominierte Beziehungssituation zu bejahen. Gemäss den vorinstanzlichen Erwägungen sei indessen nicht davon auszugehen, dass die eheliche Gewalt die nach Art. 50 Abs. 2 erforderliche Intensität erreicht habe (siehe vorne Erw. II/1.1). Dieser Erwägung kann nicht gefolgt werden: Die von der Beschwerdeführerin geschilderten Ereignisse, welche glaubhaft erscheinen, stellen Vorfälle ehelicher Gewalt dar. So sah sich die Beschwerdeführerin mit Drohungen und dazu passenden physischen Aus-

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einandersetzungen konfrontiert, so dass sie sich um ihre körperliche Unversehrtheit und diejenige ihres zu diesem Zeitpunkt noch ungeborenen Kindes sorgte. Auch sah sie sich in ihrer körperlichen Bewegungsfreiheit eingeschränkt, indem sie die Familienwohnung nicht allein verlassen konnte. Für die Intensität der erlebten ehelichen Gewalt spricht, dass die Beschwerdeführerin bereits nach kurzer Zeit Zuflucht in einem Frauenhaus suchte und dort auch Schutz für die Dauer von rund zwei Monaten erhalten hat. Zusammengefasst ergibt sich, dass für die Beschwerdeführerin infolge der im ehelichen Haushalt erlittenen Gewalt, vorwiegend psychischer Natur, eine objektiv unerträgliche Situation entstand, in der ihr nicht zugemutet werden konnte, weiter in der familiären Gemeinschaft zu verbleiben. Daran ändert nichts, dass die eheliche Gemeinschaft danach erneut aufgenommen wurde, um schliesslich wieder, infolge weiterer Vorfälle ehelicher Gewalt durch den Ehemann sowie psychischer Gewalt durch die Schwiegermutter, endgültig beendet zu werden (siehe vorne Erw. II/3.3.1.5). Die Beschwerdeführerin führte aus, ihr damaliger Ehemann habe sich entschuldigt. Auch wollte die Beschwerdeführerin nicht, dass ihr Kind ohne Vater aufwachse. Ein unter solchen Gegebenheiten vorhandener Wunsch der Wiederaufnahme der ehelichen Beziehung kann Folge multipler Abhängigkeiten einer gewaltbelasteten Beziehung sein. Darunter fällt beispielsweise das Phänomen, dass sich die gewaltbetroffene Person eigentlich gar nicht trennen möchte. Sie möchte "nur", dass die Gewalt endet, und kehrt deshalb, bei entsprechenden Versprechungen, zum Partner zurück, was als "Kreislauf der Gewalt" bezeichnet wird (vgl. im Auftrag des eidgenössischen Büros für Gleichstellung von Frau und Mann erstellten Bericht vom Juni 2012 mit dem Titel "Beurteilung des Schweregrades häuslicher Gewalt ­ Sozialwissenschaftlicher Grundlagenbericht", S. 15). Hinzu kommt, dass das erneute Zusammenleben an einem anderen Wohnort in einer neuen Wohnung und ohne die übrigen Familienmitglieder erfolgte. Die Intensität der erlebten ehelichen Gewalt lässt sich vor diesem Hintergrund aufgrund der Wiederaufnahme des Zusammenlebens nicht relativieren. Im Übrigen wies die Beschwerdeführerin denn auch darauf hin, dass ihre damalige Schwiegermutter die für sie hauptverantwortliche

Rolle betreffend die Vorfälle häuslicher Gewalt gespielt habe (siehe vorne Erw. II/3.3.1.4 f.). Die nach erneutem Zusammenleben der Eheleute vorgefallenen Zwischenfälle betonen sodann die Systematik der Gewalt, welche vom damaligen Ehemann und der damaligen Schwiegermutter, auch nach räumlicher Trennung, ausging. Im Ergebnis ist damit festzuhalten, dass die durch die Beschwerdeführerin vorgebrachte eheliche bzw. häusliche (psychische) Gewalt, ausgehend von ihrem ehemaligen Ehemann und ihrer damaligen Schwiegermutter, sowie die daraus entstandene psychische Belastung in deren Intensität im Gesamtkontext die Schwelle zur häuslichen Gewalt i.S.v. Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG erreicht. Damit wurde rechtsgenüglich dargetan, dass die Beschwerdeführerin Opfer ehelicher Gewalt im Sinne von Art. 50 Abs. 2 AIG und der diesbezüglichen bundesgerichtlichen Rechtsprechung wurde.

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3.4. Nach dem Gesagten konnte die Beschwerdeführerin glaubhaft darlegen, dass sie während ihrer Ehe Opfer ehelicher Gewalt geworden ist. Die rechtsgenüglich dargetane eheliche Gewalt, welcher die Beschwerdeführerin vor allem in psychischer Hinsicht ausgesetzt war, ist somit als derart intensiv zu qualifizieren, dass es für sie eine unzumutbare Härte darstellen würde, müsste sie aufgrund ihrer Loslösung aus der ehelichen Gemeinschaft auch die Schweiz verlassen (siehe vorne Erw. II/3.2.3). Die erlittene eheliche Gewalt führt bereits für sich allein genommen zu einem nachehelichen Härtefall: Die grundrechtlichen staatlichen Schutzpflichten gegenüber der Beschwerdeführerin (Art. 7 und Art. 35 Abs. 1 und 3 BV, Art. 3 und Art. 8 EMRK sowie Art. 5 und 12 Istanbul-Konvention), insbesondere der Schutz vor unwürdiger, erniedrigender Behandlung, gebieten es, an den Aufenthaltsanspruch der Beschwerdeführerin keine zu hohen Anforderungen zu stellen. Die Anspruchsvoraussetzung für eine Erteilung der Aufenthaltsbewilligung nach Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG sind erfüllt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_1072/2014 vom 9. Juli 2015, Erw. 2.3 und 3.3). Die Beschwerdeführerin hält sich nun seit mehr als fünf Jahren in der Schweiz auf (siehe vorne lit. A). Gemäss ihren eigenen Angaben verstehe sie Schweizer- und Hochdeutsch. Hingegen bereite ihr das Reden und Schreiben der deutschen Sprache immer noch gewisse Schwierigkeiten (act. 180). Diese Angaben lassen sich anhand der Akten insoweit bestätigen, als aus dem Bericht der Kantonspolizei Aargau vom 2. Februar 2024 hervorgeht, dass die Verständigung mit der Beschwerdeführerin auf Hochdeutsch erfolgte und sie anlässlich einer Befragung durch das MIKA vom 15. Mai 2024 allerdings auf einen Dolmetscher angewiesen war (act. 229, 244 f.). Angesichts ihrer hiesigen Aufenthaltsdauer ist in sprachlicher Hinsicht knapp von einer normalen Integration auszugehen. Zur beruflichen und wirtschaftlichen Integration geht aus den Akten hervor, dass die Beschwerdeführerin zunächst auf Sozialhilfe angewiesen war und ab 3. September 2019 von der Gemeinde materielle Hilfe bezog (Beilage 5 zu act. 15 ff.). Ab dem 2. November 2020 arbeitete die Beschwerdeführerin als Unterhaltsreinigerin (act. 38) und musste ab 1. Januar 2021 erneut mit Sozialhilfe unterstützt werden (act. 57). Die

Beschwerdeführerin machte geltend, da sie für ihren Sohn sorgen müsse, gestalte sich die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit als schwierig (act. 75). Vom 6. September 2021 bis 28. Februar 2022 war die Beschwerdeführerin als Lagermitarbeiterin mit Stundenlohn in einem variablen Pensum angestellt (act. 96 ff.). Ab Januar 2022 musste sie wieder mit materieller Hilfe von der Gemeinde unterstützt werden (act. 112). Die Beschwerdeführerin arbeitete ab 1. April 2022 als Verkäuferin und Lagermitarbeiterin (act. 118 ff.). Ab dem 10. Oktober 2022 war sie als Produktionsmitarbeiterin angestellt und erzielte durchschnittlich

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ein monatliches Nettoeinkommen von Fr. 4'183.10 (act. 179, 187 ff.). Die Sozialhilfe wurde in der Folge per 31. Dezember 2022 eingestellt und der bezogene Saldo beträgt Fr. 14'622.27 (act. 161 f.). Gemäss E-Mail der Arbeitgeberin vom 29. April 2024 wurde der Beschwerdeführerin am 5. April 2024 die Kündigung ausgesprochen und die Kündigungsfrist betrage zwei Monate (act. 222). Offensichtlich bemühte sich die Beschwerdeführerin immer wieder, beruflich Fuss zu fassen, und fand trotz Schwierigkeiten aufgrund fehlender Aufenthaltsbewilligung und ihrer Betreuungspflichten auch immer wieder eine neue Arbeitsstelle. Während ihres hiesigen Aufenthalts war sie denn auch mehrheitlich arbeitstätig. Nach dem Gesagten ist der Beschwerdeführerin knapp eine normale berufliche Integration zu attestieren. In sozialer Hinsicht bringt die Beschwerdeführerin vor, sich hier einen grossen Freundes- und Bekanntenkreis aufgebaut zu haben (act. 5). Insgesamt vermochte sich die Beschwerdeführerin in der Schweiz, gemessen an ihrem Aufenthalt, knapp normal zu integrieren. Dies spricht zwar in einem gewissen Masse zusätzlich für einen nachehelichen Härtefall, ist indessen nach dem Gesagten aber nicht entscheidrelevant. Gleiches gälte im Übrigen für eine allfällige Beeinträchtigung ihrer sozialen Wiedereingliederungschanen im Heimatland, wofür allerdings ohnehin keine konkreten Hinweise vorliegen. Auch betreffend des Umstandes, dass die Beschwerdeführerin mit ihrem früheren Ehemann einen mittlerweile fünfjährigen Sohn hat und der Kindsvater nun ein ausgedehntes Besuchsrecht wahrnimmt (act. 180), ist nach dem Gesagten nicht (mehr) von entscheidender Relevanz. Deshalb erübrigt sich eine vertiefte Erörterung dieser Aspekte. Schliesslich ist auch das Vorliegen von Erlöschensgründen gemäss Art. 51 Abs. 2 AIG zu verneinen. Mit Urteil der Präsidentin des Bezirksgerichts R._____ vom 27. März 2023 wurde die Beschwerdeführerin vom Vorwurf der falschen Anschuldigung freigesprochen, jedoch wegen mehrfachen unrechtmässigen Bezugs von Leistungen einer Sozialversicherung der Sozialhilfe für schuldig befunden. Der Antrag auf Landesverweisung wurde abgewiesen, da das erstinstanzliche Strafgericht den unrechtmässigen Sozialleistungsbezug nicht als Katalogtat für eine obligatorische Landesverweisung einstufte (act. 362). Die zuständige

Staatsanwältin hat diesen Entscheid jedoch beim Obergericht des Kantons Aargau mit Berufung angefochten (act. 365). Das Berufungsverfahren ist zurzeit noch hängig. Ein rechtskräftiges Strafurteil liegt somit (noch) nicht vor. Es gilt diesbezüglich die Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Abs. 2 EMRK, Art. 10 Abs. 1 der Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 [Strafprozessordnung, StPO; SR 312.0]) und eine Berücksichtigung im vorliegenden Verfahren fällt grundsätzlich ausser Betracht (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_549/2019 vom 9. Dezember 2019, Erw. 4.3.4). Immerhin kann aber festgehalten werden, dass im erstinstanzlichen Strafurteil unter Berufung auf die einschlägige bundesgerichtliche Rechtsprechung nicht davon ausgegangen wurde, die Beschwerdeführerin sei in schwerwiegen-

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der Weise straffällig geworden. Unter diesen Umständen drängt es sich nicht länger auf, das Vorliegen eines rechtskräftigen Strafurteils abzuwarten. Wird das erstinstanzliche Strafurteil bestätigt, liegt mit Blick auf die begangenen Delikte kein Erlöschensgrund im Sinne von Art. 51 Abs. 2 i.V.m. Art. 62 AIG vor. Wird demgegenüber im Berufungsverfahren eine Landesverweisung ausgesprochen, muss die Beschwerdeführerin die Schweiz unabhängig vom Ausgang des vorliegenden Verfahrens ohnehin verlassen. Darüber hinaus wurde die Beschwerdeführerin mit Strafbefehl der Staatsanwaltschaft M._____ vom 7. Februar 2024 wegen Führens eines Motorfahrzeugs ohne den erforderlichen Führerausweis sowie wegen unbegründeten Linksfahrens auf der Autobahn mit einer bedingt vollziehbaren Geldstrafe von 60 Tagessätzen zu je Fr. 110.00, unter Ansetzung einer Probezeit von zwei Jahren, und einer Busse von Fr. 1'800.00 bestraft (act. 213 ff.). Auch diese Verurteilung begründet keinen Erlöschensgrund im Sinne von Art. 51 Abs. 2 i.V.m. Art. 62 AIG. Da bei der Beschwerdeführerin ein nachehelicher Härtefäll im Sinne Art. 50 Abs. 1 lit. b AIG vorliegt, hat sie nach Massgabe der genannten Bestimmung einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung. 4. Wie bereits eingangs erwähnt (siehe vorne Erw. I/1), steht die Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung nach Auflösung der ehelichen Gemeinschaft gemäss Art. 50 AIG und Art. 77 VZAE unter dem Vorbehalt der Zustimmung des Bundes. Mit anderen Worten hat das SEM vor Erteilung der Bewilligung durch den Kanton seine Zustimmung zu erteilen (Art. 40 Abs. 1 AIG; Art. 99 AIG i.V.m. Art. 85 Abs. 1 und 2 VZAE; Art. 4 lit. d ZV-EJPD; vgl. Weisungen und Erläuterungen des SEM zum Ausländerbereich [Weisungen AIG], Bern Oktober 2013 [aktualisiert am 1. Juni 2024], Ziff. 1.3.1, S. 24). Vorliegend unterliegt demnach die Erteilung von Aufenthaltsbewilligungen an die Beschwerdeführerin der Zustimmung des SEM. Die Gutheissung der Beschwerde durch das Verwaltungsgericht hat deshalb nicht unmittelbar die Erteilung der Bewilligung durch das MIKA zur Folge, sondern führt einzig dazu, dass das MIKA die Erteilung der Bewilligung dem SEM mit dem Antrag auf Zustimmung zu unterbreiten hat. 5. 5.1. Die Beschwerdeführerin beantragt die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege sowie die Beiordnung

ihres Anwalts als unentgeltlicher Rechtsbeistand für das Einspracheverfahren (Beschwerdeantrag 1). Dazu ist zunächst festzuhalten, dass im Einspracheverfahren gemäss § 8 Abs. 1 EGAR weder Gebühren erhoben noch Parteientschädigungen zugesprochen werden. Zu klären bleibt somit einzig, ob der Rechtsvertreter im Ein-

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spracheverfahren als unentgeltlicher Rechtsbeistand hätte eingesetzt werden müssen. 5.2. 5.2.1. Gemäss § 2 Abs. 1 EGAR i.V.m. § 34 Abs. 1 VRPG befreit die zuständige Behörde natürliche Personen auf Gesuch von der Kosten- und Vorschusspflicht, wenn die Partei ihre Bedürftigkeit nachweist und das Begehren nicht aussichtslos erscheint. Unter den gleichen Voraussetzungen kann einer Partei eine unentgeltliche Rechtsvertretung bestellt werden, wenn es die Schwere einer Massnahme die Rechtslage rechtfertigt und die Vertretung zur gehörigen Wahrung der Interessen der Partei notwendig ist (§ 2 Abs. 1 EGAR i.V.m. § 34 Abs. 2 VRPG). Im Übrigen gelten die Bestimmungen des Zivilprozessrechts (§ 2 Abs. 1 EGAR i.V.m. § 34 Abs. 3 VRPG). 5.2.2. Bedürftigkeit liegt vor, wenn eine Partei ausser Stande ist, neben dem notwendigen Lebensunterhalt für sich und ihre Familie für Gerichts- und notwendige Anwaltskosten aufzukommen (zum Ganzen VIKTOR RÜEGG/ MICHAEL RÜEGG, in: KARL SPÜHLER/LUCA TENCHIO/DOMINIK INFANGER [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl. 2017, N. 4 zu Art. 117 ZPO mit weiteren Hinweisen). Aussichtslos sind Rechtsbegehren, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten jene nur wenig geringer sind als diese. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde (BGE 122 I 267, Erw. 2b). Die Erfolgsaussichten beurteilen sich dabei im Zeitpunkt der Gesuchseinreichung; steht aber fest, dass die gesuchstellende Partei im Zeitpunkt des Entscheides nicht mehr bedürftig ist, kann auf diese Verhältnisse abgestellt werden (RÜEGG/RÜEGG, a.a.O., N. 4 zu Art. 117 ZPO mit weiteren Hinweisen). 5.3. Die Vorinstanz lehnte das Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Einsetzung ihres Anwalts als unentgeltlichen Rechtsvertreter für das Einspracheverfahren mangels nachgewiesener Bedürftigkeit ab (act. 13). Auch im vorliegenden Verfahren vermochte die Beschwerdeführerin ihre Bedürftigkeit nicht zu belegen, weshalb ihr Gesuch um Gewährung der

unentgeltlichen Prozessführung und Einsetzung ihres Rechtsvertreters als unentgeltlicher Rechtsbeistand auch vor Verwaltungsgericht mangels nachgewiesener Bedürftigkeit abgelehnt wurde (siehe vorne lit. C). Die Beschwerde ist in diesem Punkt abzuweisen.

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6. Nachdem die Beschwerdeführerin gestützt auf Art. 50 Abs. 1 lit. b i.V.m. Abs. 2 AIG einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltsbewilligung im Rahmen des festgestellten nachehelichen Härtefalls hat, ist die Beschwerde gutzuheissen und der Einspracheentscheid der Vorinstanz vom 10. Februar 2020 aufzuheben. Das MIKA ist anzuweisen, dem SEM die Erteilung der neuen Aufenthaltsbewilligung an die Beschwerdeführerin mit dem Antrag auf Zustimmung zu unterbreiten. III. 1. Im Beschwerdeverfahren sind die Verfahrenskosten in der Regel nach Massgabe des Unterliegens und Obsiegens auf die Parteien zu verlegen (§ 31 Abs. 2 Satz 1 VRPG). Gleiches gilt für die Parteikosten (§ 32 Abs. 2 VRPG). 2. Bei diesem Verfahrensausgang obsiegt die Beschwerdeführerin. Nachdem das MIKA weder schwerwiegende Verfahrensmängel begangen noch willkürlich entschieden hat, sind die Verfahrenskosten auf die Staatskasse zu nehmen (§ 31 Abs. 2 VRPG). 3. Als unterliegende Partei hat das MIKA der Beschwerdeführerin die Parteikosten für das Verfahren vor dem Verwaltungsgericht zu ersetzen (§ 32 Abs. 2 VRPG). Die Festsetzung der Höhe der Parteientschädigung richtet sich nach dem Dekret über die Entschädigung der Anwälte vom 10. November 1987 (Anwaltstarif, AnwT; SAR 291.150). Migrationsrechtliche Verfahren sind sogenannte nicht vermögensrechtliche Streitigkeiten. Die Parteientschädigung setzt sich damit zusammen aus einer Grundentschädigung zwischen Fr. 1'210.00 und Fr. 14'740.00 (§ 8a Abs. 3 i.V.m. § 3 Abs. 1 lit. b AnwT) sowie den Zu- und Abschlägen (§§ 6­8 AnwT). Innerhalb dieses Rahmens ist die Grundentschädigung nach dem mutmasslichen Aufwand des Anwaltes sowie nach der Bedeutung und der Schwierigkeit des Falles festzusetzen (§ 3 Abs. 1 lit. b AnwT). Durch die tarifgemässe Entschädigung sind die in einem Verfahren notwendigen und entsprechend der Bedeutung der Sache üblichen Leistungen des Anwaltes einschliesslich der üblichen Vergleichsbemühungen abgegolten (§ 2 Abs. 1 AnwT). Die Entschädigung ist als Gesamtbetrag festzusetzen. Auslagen und Mehrwertsteuer sind darin enthalten (§ 8c AnwT). Nachdem zwar keine Verhandlung stattgefunden hat, neben der Beschwerde aber weitere Eingaben notwendig waren, erscheint eine Entschädigung von Fr. 3'500.00 (inkl. Auslagen und MwSt.) als angemessen. Das

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MIKA ist dementsprechend anzuweisen, der Beschwerdeführerin die Parteikosten in besagter Höhe zu ersetzen.

Das Verwaltungsgericht erkennt: 1. In Gutheissung der Beschwerde wird der vorinstanzliche Einspracheentscheid vom 10. Februar 2020 aufgehoben. Das MIKA wird angewiesen, dem SEM die Erteilung einer neuen Aufenthaltsbewilligung an die Beschwerdeführerin, zusammen mit dem vorliegenden Entscheid, mit dem Antrag auf Zustimmung zu unterbreiten. 2. Die Kosten des Verfahrens vor Verwaltungsgericht gehen zu Lasten des Kantons. 3. Das MIKA wird angewiesen, der Beschwerdeführerin nach Rechtskraft die vor Verwaltungsgericht entstandenen Parteikosten in Höhe von Fr. 3'500.00 (inkl. Auslagen und MwSt.) zu ersetzen.

Zustellung an: die Beschwerdeführerin (Vertreter, im Doppel) die Vorinstanz (mit Rückschein) das Staatssekretariat für Migration, 3003 Bern

Rechtsmittelbelehrung Migrationsrechtliche Entscheide können wegen Verletzung von Bundesrecht, Völkerrecht, kantonalen verfassungsmässigen Rechten sowie interkantonalem Recht innert 30 Tagen seit der Zustellung mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, angefochten werden, soweit nicht eine Ausnahme im Sinne von Art. 83 lit. c des Bundesgesetzes über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (Bundesgerichtsgesetz, BGG; SR 173.110) vorliegt. Die Frist steht still vom 7. Tag vor bis und mit 7. Tag nach Ostern, vom 15. Juli bis und mit 15. August und vom 18. Dezember bis und mit 2. Januar. Das Bundesgericht tritt auf Beschwerden nicht ein, wenn weder das Bundesrecht noch das Völkerrecht einen Anspruch auf die in Frage stehende Bewilligung einräumt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_694/2008 vom 25. September 2008).

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In allen anderen Fällen können migrationsrechtliche Entscheide wegen Verletzung von verfassungsmässigen Rechten innert 30 Tagen seit Zustellung mit der subsidiären Verfassungsbeschwerde beim Schweizerischen Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, angefochten werden. Die unterzeichnete Beschwerde muss das Begehren, wie der Entscheid zu ändern sei, sowie in gedrängter Form die Begründung, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt, mit Angabe der Beweismittel enthalten. Der angefochtene Entscheid und als Beweismittel angerufene Urkunden sind beizulegen (Art. 82 ff. BGG bzw. Art. 113 ff. BGG).

Aarau, 22. August 2024 Verwaltungsgericht des Kantons Aargau 2. Kammer Vorsitz: Gerichtsschreiberin:

Busslinger

Peter

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